Dem Rotmilan auf der Spur

Mit dem Rotmilan verbindet mich etwas ganz Besonderes: Wie sich schon im Jahr 2011 heraus kristallisierte, ist meine Heimat, das Lipperland, ein Schwerpunkt der Verbreitung dieses Greifs. Die meisten Rotmilane brüten in Deutschland, und es gibt sie nur in Europa. Das war auch der Anlass, dass der Kreis Lippe auf meine Kollegin Sarah Herbort und mich zu kam. „Hättet Ihr Lust, einen Film über Rotmilane zu drehen?“, lautete die Frage.

Klar, hatten wir Lust. Wir sagten zu. Doch dann begannen die Überlegungen. Wie kann man einen Vogel, der seinen Horst in 15 bis 30 Metern Höhe in Baumkronen baut, filmen? Wenn man die Jungen von unten mit der Kamera sieht, dann ist die interessanteste Phase bereits vorbei. Und der Blick von unten ist nicht gerade das, was ein Filmerherz höher schlagen lässt.

Unser lieber alter Kollege Heinz Sielmann hätte sicher im Nachbarbaum eine Plattform gebaut, einen schön getarnten Ansitz. Doch dazu müssen die Bäume richtig stehen, man muss freien Blick auf den Horst haben und das Wetter muss mitspielen. Denn wenn mal windig ist, dann schwanken die Baumkronen. Und dann verwackeln auch die Aufnahmen.

Wir erfanden also eine neue Technik, eine Art Kamerafahrstuhl.

Als im Winter die Hausherren noch im Süden weilten, brachten wir mit einem Hubwagen die Aufhängung am Horst an. Das war oft abenteuerlich. Mal fror das Hydrauliköl ein, und wir mussten uns samt Ausrüstung in 15 Metern Höhe schön fest halten, damit wir nicht aus den Korb des Hubwagens rutschten. Mal fuhr sich der Wagen auf einem Feld fest, als die Sonne die Oberfläche in Schlamm verwandelte. Oder die Höhe reichte nicht ganz aus. Dann kam ein größerer Hubwagen, und es fehlte immer noch ein Meter, als die Sicherheitsabschaltung in Kraft trat. Da half dann nur beherztes Schwingen, bis wir den Baumstamm zu packen bekamen und und so an den Horst heranziehen konnten.

So wurden vier Rotmilannester mit Technik versehen. Und bei einem hatten wir Erfolg. Die Rotmilane zogen ein und fanden die Installation ganz in Ordnung.

Die Technik funktioniert einfach: Mit einer Art Flaschenzug wurde eine Kiste nach oben gezogen, in der die Kamera eingebaut war. Oben schnappte die Kiste ein, damit sich im Wind nicht wild herum pendelte. Ein langes Kabel versorgte die Kamera mit Strom und den Steuerimpulsen. Und uns am Boden mit dem entsprechenden Bild. Auf einem Monitor konnten wir sehen, was die Rotmilane trieben, und nach Bedarf schwenken, zoomen oder die Aufnahme starten.

Mit unserer Technik waren wir die ersten, die so hautnahe Aufnahmen aus dem Leben der Rotmilane in professioneller Qualität machen konnten. Wir verbrachten Stunden am Monitor unter dem Horstbaum. Und uns standen Tränen im Auge, als wir zum ersten Male die frisch geschlüpften Küken sahen. Der Aufwand hatte sich gelohnt.

Im zweiten Jahr der Dreharbeiten hatten wir vier weitere Horste mit Technik ausgestattet, zwei davon wurden besetzt, einer allerdings von den weltweit verbreiteten Schwarzmilanen. Wir erlebten jede Menge Abenteuer bei den Dreharbeiten. Mal kamen Wildschweine vorbei, mal löste sich oben eine Schraube. Die Folge: Kasten samt Kamera machten sich beim einrasten selbstständig und kamen, der Schwerkraft folgend, herunter. Und der Kasten beschleunigte dabei auf atemberaubende Werte. Kurz hatte ich überlegt, ob ich alles auffangen könnte - verwarf die Idee glücklicherweise wieder.

Einmal schloss ich, vollkommen übernächtigt, die Stromversorgung falsch an. Die Folge war ein leises Zischen im Kasten, ein protestierender Ruf der jungen Milane und ein Rauchwölkchen, das aus dem Kasten quoll und den Tod der Kamera besiegelte.

Rotmilane schlagen keine große Beute. Mäuse gehörten zur bevorzugten Beute, die Alttiere nehmen sogar Regenwürmer und Großinsekten. Besonders gern erbeuten sie Aas. Das rennt nicht weg und wehrt sich nicht. Und so legten wir für unsere Milane einen Luderplatz an.

Hört sich lustig in der Jägersprache lustig an, ist aber einfach ein Platz, wo man tote Tiere deponiert. Oft sammelten wir überfahrene Tiere ein. Wenn die ein paar Stunden liegen, dann sind sie ein olfaktorisches Problem. Dann hilft es nur, beim Transport alle Fenster auf zu machen. Manche Verkehrsteilnehmer werden auch ein wenig sparsam geschaut haben, wenn sie im Heckfenster des Geländewagens schlanke Rehbeine aufragen sahen. 

Am Luderplatz roch es auch nicht gerade nett, vor allem im Sommer. Dann war das Ansitzen dort nicht immer ein Vergnügen.

Ähnliche Erfahrungen machten wir in Spanien. Neuzeitliche Rotmilane pflegen in den Süden zu wandern. Nicht wegen der Wärme. Wir wir erfahren mussten, kann es in der Schweiz und in den Pyrenäen verdammt kalt werden. Nein, sie finden dort einfach besser Nahrung. In Spanien gibt es Luderplätze für Geier und Co, nachdem wegen eine EU-Verordnung keine toten Tiere mehr in der Landschaft liegen durften. Dass sie weg geräumt wurden, brachte Milan und Geier an den Rand der Ausrottung, deswegen werden sie jetzt zum Fressen an speziellen Stellen rausgelegt.

Oder in der Schweiz gibt es sogar private Fütterungen für die Tiere. Rotmilane treffen sich im Süden zu Schlafgemeinschaften - dann sitzen hundert und mehr dieser Vögel in speziellen Bäumen. Das wollten wir natürlich auch filmen. Wir machten uns also auf den Weg in die Pyrenäen. Weil der Film vor allem über Spenden finanziert wurde, hatten wir nur ein arg begrenztes Budget. Wir hatten nicht viel Zeit, so einen Rastplatz zu finden.

Die kleine Expedition war beschwerlich - auch wenn einige böse Zungen daheim in Lippe Gerüchte von Tierfilmer-Lustreisen verbreiteten. Es war kalt, es stank auf den Luderplätzen. Eines der Tarnzelte mussten wir hinterher weg werfen, weil es den Geruch des Luderplatzes angenommen hatte. Es wieder im Auto in die Heimat zu transportieren, war einfach unzumutbar.  Als wir aber dann nach ein paar Tagen filmen konnten, wie sich auf einmal hunderte Rotmilane am Himmel versammelten, fielen uns regelrechte Felsbrocken vom Herzen.

Mutig geworden, ging es noch in die Schweiz. Dort füttert im Kanton Luzern ein engagierte Bauer seine Rotmilane. Mehr als 200 finden sich im Winter bei ihm ein, sie bekommen jeden Morgen um 9. Uhr Frühstück. Doch vorher gab es noch technische Probleme.

Der Spanische Diesel im Tank machte dann bei den minus 22 Grad in der Schweiz nicht mehr mit. Diesel wird bei tiefen Temperaturen zu Gelee. Wie in einem schlechten Film stotterte der Motor unseres Geländewagens in Sichtweite der Tankstelle und ging aus.

Ein andere Geländewagen kam uns zu Hilfe, zog uns bis zur Tanke. Dann gab es den guten winterfesten Schweizer Diesel und zur Sicherheit noch einen Schluck Super oben drauf. Und schon schnurrte unser Auto wieder wie ein Schweizer Uhrwerk.

Dann konnten wir filmen. Über dem Futterplatz kreisten 200 Rotmilane und 40 Bussarde wie ein großer Vogeltornado. Und wir brachten einzigartige Aufnahmen mit.

Das Jahr des Rotmilans

Jeder Film ist auch ein kreativer Prozess. Besonders Naturfilmer malen mit Licht, komponieren die Szenen. Nach Möglichkeit sollte jedes einzelne der 25 Bilder, die pro Sekunde über den Bildschirm flimmern, für sich genommen ein Postkartenmotiv sein. Das geht natürlich nicht immer. Dennoch steckt in jedem Film viel Herzblut - und in dem Rotmilanfilm ganz besonders.

Das Schöne an diesem Projekt war, dass wir vollkommen freie Hand hatten. Dass wir unsere Ideen umsetzen konnten, ohne dass uns drastische Vorgaben gemacht wurden, wie was auszusehen hat. Und wir hatten genug Zeit, um das Projekt zu vollenden. Denn für so einen Film sind mindestens zwei Jahre notwendig. Allzuviel kann im ersten Jahr schief gehen. Eine Brut fällt aus. Oder ein Partner kommt nicht aus den Winterquartieren zum Horst zurück. Die Rotmilane beschließen, in eine andere Residenz umzuziehen. Dann ergibt sich erst im nächsten Jahr die Chance, die entsprechenden Szenen in den Kasten zu bekommen.

Im dritten Jahr der Produktion begannen wir, den kompletten Film zu schneiden, nachdem vorher erst Trailer und einige einzelne Szenenfolgen fertig gestellt werden konnten. Sowas ist nochmal viel Arbeit. Musik muss ausgesucht, ein Text für den Sprecher geschrieben werden. Manchmal werden an einem Tag fünf Minuten Film im Rohschnitt fertig, manchmal feilt man an einem einzigen Übergang mehrere Stunden.

Zwischendurch geht es auf zu weiteren Projekten. Uns kam es daher gelegen, als sich - wir hatten den Film fast fertig - ein Redakteur vom ZDF meldete. Ob wir Lust hätten, für ein Projekt auf Mallorca Naturaufnahmen zu machen? Klar hatten wir Lust.

Die Dreharbeiten im Mittelmeer fielen natürlich genau in die Zeit, als auch die schon als großes Event geplante Premiere des Filmes im Lippischen Schlangen geplant war. Das sei kein Problem, wurde uns versichert, wir würden rechtzeitig vom Drehort zum Flieger gebracht werden.

Und wir hatten den Film aus einer spontanen Laune heraus zu einem internationalen Naturfilmfestival eingereicht.

Drei Tage vor der Filmpremiere hingen wir noch auf einer kleinen Insel im Süden Mallorcas fest - auf den letzten Drücker wurde eine Rückfahrt organisiert. Wir bekamen mit einiger Mühe den Flieger und so stand der Premiere mit Medienvertretern, den Vertretern von Politik und Gesellschaft, Wissenschaftlern, Festrednern sowie mehreren hundert Gästen nichts mehr im Weg.

Als wir danach dann wieder im Mallorcanischen Tramuntana-Gebirge unterwegs waren, klingelte das Mobiltelefon. Eine sehr freundliche Mitarbeiterin des Greenscreen-Festivals in Eckerförde war am anderen Ende. Ob wir denn zur Preisverleihung kommen wollten - lautete ihre Frage.

Oh, das hatten wir schon ganz vergessen. Denn wir hatten uns natürlich keine Chancen ausgerechnet. Namhafte Fernsehproduktionen aus dem In- und Ausland hatten Filme eingereicht, auch die BBC mit ihrem Star Sir David Attenborough. Naja, duckste ich herum.

Wir seien mit unserem Film nominiert, und wir sollten doch kommen. Ein Hotelzimmer werde reserviert. Ok - ich gab mich geschlagen und sagte zu. Abends teilten wir uns einen Piccolo - mehr war nicht drin, wir waren mitten in den Dreharbeiten.

Dann war es so weit. Wir waren zu Gast beim Greenscreen-Festival - wie wir inzwischen erfuhren, eines der ganz Großen im Naturbereich. Wir sahen die Werke der anderen Nominierten. Geparden in Südafrika. Ein Filmer, der 30 Jahre in der Sonora-Wüste in den USA gefilmt hatte. Dagegen konnten wir einfach nicht ankommen mit unserem Lippischen Rotmilan. Aber wir fanden es schön - genossen die Atmosphäre des liebevoll gestalteten Festivals, die netten Gspräche mit den anderen Filmern und natürlich die Filme, die gezeigt wurden. Dann kam der Abend der Preisverleihung.

Warm war es auf dem Dachboden der Scheune, der zur Festhalle geworden war. Auch unser Redakteur vom ZDF war dabei. Dann kam ein Film nach dem anderen - einer der Hauptpreise ging verdientermaßen, wie wir fanden, an die BBC-Produktion. Eine weitere wichtige Sparte kam fast zum Schluss, prämiert werden sollte der beste unabhängig produzierte Film.

Und es war wie im Film. „Der Gewinner ist....“ sagte der Moderator. - Papier raschelte, ein Umschlag wurde auf der Bühne geöffnet. Es war totenstill im Saal. Dann hörte ich: „Das Jahr des Rotmilans“.

 „Juhuuu“, rief der Redakteur neben uns. Alle dachten, ich wäre das gewesen. Aber Mitstreiterin Sarah Herbort und ich waren erst einmal sprachlos. Wir dackelten zur Bühne und fanden langsam die Worte wieder. Danach erlebten wir den Abend wie in Trance. Später gab es einen Stein in der Uferpromenade von Eckernförde mit unseren Namen drauf, und der Film wurde noch mit weiteren Preisen ausgezeichnet.

Das schönste waren aber danach die Vorträge mit unserem Rotmilanfilm. Wir schienen einen Nerv getroffen zu haben. In Halberstadt füllte sich der Rathaussaal, irgendwann mussten Zuschauer, die noch draußen in der Schlange standen, ausgesperrt werden - der Saal wäre sonst zu voll geworden.

Im Rahmen des Greenscreen-Festivals tingelten wir mit dem Streifen durch einige Kinos in Schleswig-Holstein - mit speziellen Veranstaltungen für Schüler. Es war wunderbar, die Reaktionen zu erleben. Ein Mädchen aus der dritten Klasse war besonders begeistert von den jungen Meisen, die im Film auftauchen. „Kann ich auch so eine Meise haben?“ fragte sie.

Auch Jahre später ist der Rotmilanfilm immer noch gefragt. Ebenso die Aufnahmen - denn die von uns für den Film entwickelte Technik ermöglichte einzigartige Einblick in die Kinderstube des faszinierenden Greifs